S. Brändli u.a. (Hrsg.): Zum Fall machen, zum Fall werden

Cover
Titel
Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Brändli, Sibylle; Lüthi, Barbara; Spuhler, Gregor
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 29,90
URL
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Die „Arbeit am Fall“ gilt unter kulturgeschichtlich orientierten Historikerinnen und Historikern seit einiger Zeit als viel versprechende Strategie, wenn nicht gar als Königsweg, um sich dem heuristisch wenig produktiven Gegensatz von Struktur und Ereignis zu entziehen. Längst als historiographische Klassiker gelten in dieser Hinsicht die in der Frühneuzeit angesiedelten Arbeiten von Carlo Ginzburg und Emmanuel Le Roy Ladurie. Zeithistorikerinnen und -historiker versprechen sich von der Untersuchung von Einzelfällen indes vor allem, die für den modernen Anstaltsstaat charakteristischen Begegnungen von Individuen und Institutionen in den Blick zu bekommen. Wie, wenn nicht auf diese Weise, sollen die Lebensspuren jener „infamer Menschen“ (Michel Foucault) greifbar werden, deren (Selbst-)Zeugnisse mehr durch Zufall als durch gezielte Überlieferung erhalten geblieben sind? Diese Hoffnung auf Authentizität nährt sich aus der Unauflösbarkeit der Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen: Einzelfälle und Fallstudien vermögen in ihrer Besonderheit zwar allgemeine Regelmäßigkeiten respektive dafür konstitutive Konventionen, Normen und juristisch-administrative Programme erkennbar machen. Gleichzeitig gehen sie darin nicht gänzlich auf; es bleibt ein Rest, in dem Kontingenz und Bedeutungsvariation exemplarisch sichtbar werden. Allerdings bleibt der Begriff des „Falls“ selbst in vielen neueren Arbeiten unscharf; er oszilliert – grob gesagt – zwischen der archivalischen Einheit der Fallakte und der soziologischen Tradition der Case study. Viel versprechend ist deshalb das Anliegen des hier zu besprechenden Sammelbands, der aus einer im Januar 2006 an der Universität Basel abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. Anhand von Beispielen aus der Medizin- und Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unternehmen die elf Autorinnen und Autoren den Versuch, den Fallbegriff in forschungspraktischer Hinsicht zu problematisieren und zu klären. Ausgangspunkt bildet der Vorschlag der Herausgeberinnen und des Herausgebers, den Fallbegriff unter den Aspekten „Fallakte“, „Fallgeschichte“ und „Fallstudie“ zu differenzieren.

Im Zentrum der ersten drei, unter dem Titel „Fallformen“ zusammengefassten Beiträge steht die Materialität von „Fällen“. Ausgangspunkt des Beitrags von Karen Nolte bilden der medizinische Kasus und dessen Repräsentation im medizinischen Diskurs. Anhand von ärztlichen Berichten über Fälle von Gebärmutterkrebs expliziert Nolte den paradigmatischen Wandel klinischer Darstellungsformen: Räumten narrativ strukturierte Krankengeschichten bis 1850/60 den Äußerungen der Patientinnen und deren Lebenssituation breiten Raum ein, so verschwand diese Vielstimmigkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte weitgehend aus den Quellen. Auf Krankenblättern, wie sie seit 1880 etwa im Hamburger Krankenhaus Eppendorf Verwendung fanden, dominierten nun knappe, stark formalisierte Angaben zu Person, Anamnese und Krankheitsverlauf. Verantwortlich für diesen Gestaltwandel macht Nolte die Ablösung der Humoral- durch die Zellularpathologie, das Aufkommen operativer Therapien und damit verbunden der Vormarsch der Krankenhausmedizin, aber auch Veränderungen in den Dokumentationssystemen der großen Krankenhäuser. Ebenfalls auf die Formalisierung medizinischer Darstellungsweisen verweist der Beitrag von Brigitta Bernet, der sich mit dem Wandel der Aufnahmeformulare in der Zürcher Psychiatrie zwischen 1870 und 1970 beschäftigt. Bernet geht davon aus, dass es gerade solche Formulare waren, die Einzelschicksale in psychiatrisch – und wohl auch verwaltungstechnisch – bearbeitbare Fälle transformierten und als selektive „Klassifikationsraster“ für die Konstitution von „Identitäten“ verantwortlich waren. Skeptischer gegenüber der Annahme solcher Rationalisierungs- und Bürokratisierungsschübe zeigt sich der Beitrag von Christa Putz, der auf die anhaltende Präsenz narrativ, wenn nicht gar literarisch ausgestalteter Fallgeschichten in der Sexualmedizin des frühen 20. Jahrhunderts hinweist.

Der zweite, mit „Transformationen“ überschriebene Abschnitt umfasst Beiträge, die sich mit verschiedenen Prozessen der Fallwerdung beschäftigen. Am Beispiel der Stadt Basel untersuchen Stefan Nellen und Robert Sutter Einweisungen in die Irrenanstalt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Daran beteiligt waren mehrere Behörden – etwa die Polizei oder der Stadtarzt –, so dass, bezogen auf den Schriftverkehr, „Übersetzungsvorgänge“ zwischen den Instanzen notwendig wurden. Als heuristisch produktiv erweist sich dabei die Unterscheidung von „Unfall“, „Vorfall“ und „Fall“, lassen sich doch mit dieser differenzierten Begrifflichkeit die Kontingenz des Verfahrens, aber auch die Bedeutung denunziatorischer Praktiken und die Rolle informeller Sozialkontrollen im städtischen Raum herausarbeiten. Deutlich wird, dass Weichenstellungen, die im Endeffekt zu einem Fall für die Psychiatrie führten, bereits im Vorfeld psychiatrischer Institutionen erfolgten – eine Erkenntnis über die Selektivität bürokratischer Verfahren, wie sie ebenfalls aus der historischen Kriminalitätsforschung bekannt ist. Vom Ansatz her ähnlich verfährt der Beitrag von Barbara Lüthi, der sich mit der Institutionalisierung des medizinischen Blicks in der Immigrationsstation Ellis Island und der amerikanischen Immigrationsbürokratie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Dabei waren der Verfahrensverlauf, der Handlungsspielraum der ärztlichen Experten und die Aktenproduktion deutlich stärker standardisiert. Auf die Möglichkeit einzelner Individuen, ihr eigenes Schicksal zu einem Fall von allgemeinem Interesse zu machen, verweisen die Beiträge von Regina Wecker und Cornelia Brink, die sich mit der Irrenrechtsreformbewegung um 1900 und dem Genre der “Irrenbroschüren“ beschäftigen. Beide Beispiele betreffen Bürger, die mit publizistischen Interventionen ihre Respektabilität verteidigten und gegen die Abstempelung zu unmündigen Irren ankämpften. Insbesondere Brink expliziert die Vielschichtigkeit des dabei zum Tragen kommenden Fallbegriffs: Zunächst nahm das traumatische Aufeinandertreffen von Individuum und staatlichen Institutionen die Form des psychiatrischen Falls an, dann gelang es dem Betroffenen, sich selbst gegenüber dem Publikum als Exempel geschehenen Unrechts in Szene zu setzen, schließlich erweist sich das Ganze im Rückblick als ein Fallbeispiel, das etwas über das Funktionieren der Psychiatrie im Kontext der bürgerlichen Öffentlichkeit und über individuelles „Stigma-Management“ (Erving Goffman) aussagt.

Als relativ heterogen erweisen sich die Beiträge des letzten Abschnitts, der mit „Institutionelle Dynamik“ betitelt ist. Sowohl der Beitrag von Marietta Meier, der die Etikettierung von Patientinnen als „schwierige Fälle“ in der Zürcher Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli in den 1950er-Jahren untersucht, als auch der Beitrag von Gregor Spuhler, der dem Schicksal eines während des Zweiten Weltkriegs in der Schweizer Psychiatrie gelandeten jüdischen Emigranten nachgeht, verweisen auf die verschiedenen Perspektiven, die sich aus der Verwendung und dem Abgleich unterschiedlicher Quellen(-typen) ergeben können. Meier gelingt es, durch die Kontrastierung von Krankengeschichten und Verwaltungsakten die Wahrnehmungsfilter herauszuarbeiten, die für die untersuchte Zuschreibung den Ausschlag ergaben. Spuhler unternimmt dagegen eine sorgfältige Rekonstruktion einer einzelnen Krankengeschichte, wobei er die sich im Zeitverlauf verändernde Diagnostik besonders beleuchtet. Ein spezifisches Moment innerhalb der bürokratischen, sprich aktenmäßigen, Fallproduktion nimmt schließlich der Beitrag von Sibylle Brändli in den Blick. Er geht von der Beobachtung aus, dass einzelne Aktenstücke und sogar Testberichte aus Dossiers des Schulpsychologischen Diensts der Stadt Basel aus den 1970er-Jahren – offenbar wider Erwarten – häufig nicht mehr als „flüchtige Festlegungen“ der beteiligten Personen enthalten. Zu einem Akt des Zusammenfassens und rückblickenden Interpretierens komme es dagegen erst bei „Fallvergegenwärtigungen“ durch die zuständigen Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter. Solche Syntheseleistungen – wie sie in andern Kontexten etwa psychiatrische Gutachten vornehmen – haben nicht nur narrative (Re-)Strukturierungen des Aktenmaterials zur Folge, sondern erweisen sich auch als wegweisend für den weiteren Handlungsverlauf.

Als Fazit lässt sich festhalten: ausnahmslos alle Beiträge überzeugen durch interessante, zuweilen originelle Einsichten bezüglich der untersuchten Themen. Sie sind engagiert, kenntnisreich und sorgfältig geschrieben, so dass die Lektüre des Sammelbands allen an Medizin- und Psychiatriegeschichte Interessierten zu empfehlen ist. Als eher problematisch erweist sich dagegen die mangelhafte Kohärenz der Aufsatzsammlung als Ganzes. Schade ist insbesondere, dass sich kaum je eine Autorin oder ein Autor auf das in der Einleitung skizzierte Raster zur „Arbeit am Fall“ bezieht. Stattdessen entwickeln verschiedene Beiträge eigene, nicht immer nachvollziehbare und anschlussfähige Analysetermini, oder es unterbleibt überhaupt eine überzeugende Explikation des verwendeten Fallbegriffs. Auf diese Weise wird das Ziel der Herausgeberinnen und des Herausgebers, zu einer Klärung und Problematisierung des Fallbegriffs beizutragen, leider nur bedingt erreicht. Bedauerlich ist auch, dass weder die Einleitung, noch einzelne Beiträge eine Brücke zur Diskussion über Fallaktenserien schlagen, die von Archivarinnen und Archivaren seit längerem mit Bezug auf systemtheoretische Ansätze geführt wird. So ist denn auch die in der Einleitung angeführte Definition der Fallakte zumindest missverständlich. Als letztes Monitum, das sich allerdings allein an den Verlag richtet, ist die dürftige Abbildungsqualität zu erwähnen.

Redaktion
Veröffentlicht am
09.03.2010
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Weitere Informationen
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit